„Aber in Deutschland muss doch niemand auf der Straße leben!“ Warum Obdachlosigkeit auch in wohlhabenden Staaten wie Deutschland ein individuelles Risiko ist
Das Menschenrecht auf Wohnen ist Teil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, wie es in Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) bestimmt ist. Durch die Unterzeichnung des Internationalen Paktes ist Deutschland als Vertragsstaat dazu verpflichtet alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Rechte fortschreitend für alle zu verwirklichen. Nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) ist die Anzahl wohnungsloser Menschen innerhalb Deutschlands (exklusive Geflüchteter) zwischen den Jahren 2018 und 2020 um 8 % gestiegen.
Diese Zahlen lassen vermuten, dass die bisherigen Maßnahmen, um das Recht auf angemessenen Wohnraum zu verwirklichen, unzureichend waren. Betroffene der Wohnungslosigkeit, sowie Sozialarbeitende in diesem Bereich bekommen häufig zu hören, dass in Deutschland doch niemand auf der Straße leben müsse. Es gäbe doch das Recht auf Wohnraum. Es gibt Grundrechte, welche sich auf die Unverletzlichkeit der Wohnung, sowie auf den Schutz von Eigentum beziehen, doch das Grundgesetz kennt kein explizites Recht auf Wohnen.
Eine Ausnahme gilt jedoch in Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums bei Hilfsbedürftigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht umfasst u.a. einen Anspruch auf Unterkunft. Bei der Umsetzung dieses Anspruchs kommt dem Gesetzgeber jedoch ein großer Gestaltungsspielraum zu. Im Hinblick auf die Zahlen scheint dieser nicht zielführend ausgeschöpft zu sein. Im Jahr 2018 waren geschätzt 237.000 (exklusive Geflüchteter) Personen in Deutschland ohne Wohnung. Davon lebten 41.000 Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße und 196.000 lebten zum Beispiel bei Bekannten, (wieder) bei der Familie oder in Notunterkünften.
Laut Prof. Dr. Harald Ansen von der HAW Hamburg sind Menschen in kritischen Lebenssituationen, wie z.B. Trennung, Verlust der Arbeit oder Schulden, sowie junge Menschen, die ungeregelt aus Jugendhilfeeinrichtungen entlassen werden, und Menschen mit gebrochenen Biografien, welche immer schon randständig gelebt haben, besonders von Obdachlosigkeit betroffen. Für diese Menschen ist es äußerst schwierig Hilfe in der Not anzunehmen, da sich viele schon zu sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen haben. Kommt es beispielsweise zu Mietrückständen und der Vermieter reicht bei Gericht eine Räumungsklage ein, haben Betroffene die Möglichkeit die Mietschulden innerhalb von zwei Monate zu begleichen. Erfolgt dies nicht, kommt es in der Regel zu einer Wohnungsräumung. Die Menschen sind aus verschiedensten Gründen, wie z.B. psychischer Erkrankung, nicht in der Lage Hilfestellen aufzusuchen. Sie öffnen Briefe vom Amt zu spät oder überhaupt nicht, so dass Fristen nicht eingehalten werden können.
An dieser Stelle sollte unser Hilfesystem auf die Lebenssituationen der Betroffenen angepasst werden. Beispielsweise in einer verstärkten Form aufsuchender Hilfen. Sobald eine Räumungsklage bei Gericht eingeht, sollten Sozialarbeitende informiert werden. Die von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen könnten dadurch befähigt werden Hilfe anzunehmen, um den Verlust der Wohnung zu verhindern. Denn sobald die Obdachlosigkeit eingetreten ist, verhärtet sich die krisenhafte Lebenssituation. Es wird umso schwieriger, Menschen, welche auf der Straße leben, an das Hilfesystem zu binden.
In der ersten systematischen Untersuchung der Lebenslagen wohnungsloser Menschen der Alice Salomon Hochschule Berlin konnte festgestellt werden, dass der Haupteinflussfaktor auf die Lebenslage von obdachlosen Menschen die existenzielle und ontologische Sicherheit darstellt. Dabei handelt es sich um die tatsächliche Wohn-/Übernachtungssituation und die Wohnzufriedenheit, das Sicherheitsgefühl sowie den Zugang zu medizinischer Versorgung. Diese Aspekte wirken sich auf das Gefühl aus, ob das eigene Leben sicher, berechenbar und geschützt ist. Sie können nicht mit anderen Dingen kompensiert werden. Daraus wird deutlich, dass die wichtigste Hilfe für Betroffene ein menschenwürdiges Wohn- bzw. Übernachtungsangebot darstellt.
In Deutschland ist dies nicht flächendeckend umgesetzt. Viele Obdachlose suchen die Notschlafstellen nicht auf, da ihr subjektives Sicherheitsempfinden in diesen stärker beeinträchtigt ist als auf der Straße. Aus den Ergebnissen der Lebenslagenuntersuchung von Obdachlosen wird deutlich, dass eine Möglichkeit das Hilfesystem für Wohnungslose zu verbessern, der Ausbau des Housing-First-Konzeptes sein könnte. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass eine obdachlose Person an erster Stelle eine sichere Wohnunterkunft braucht, bevor andere Probleme wie beispielsweise Suchterkrankungen angegangen werden können. Es wird also nicht zuerst deren „Wohnfähigkeit“ überprüft, wie es in vielen anderen Programmen der Fall ist. Im besten Fall könnte aber ein Ausbau der Präventionsarbeit, wie bereits an anderer Stelle im Text erwähnt, schon dazu führen, dass nicht mehr so viele Menschen auf der Straße landen.