Offener Brief Worten endlich Taten folgen lassen: Die Umsetzung des geltenden Rechts zur Unterstützung geistig beeinträchtigter Eltern


Elternschaft mit geistiger Behinderung
Sommersemester 2023

Sehr geehrter Herr Olaf Scholz,
Sehr geehrte Frau Claudia Middendorf,
Sehr geehrter Herr Hendrik Wüst,
Sehr geehrter Herr Jürgen Dusel,

immer noch werden Eltern aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung von ihren Kindern getrennt, anstatt dass alles getan wird, um ein gemeinsames Familienleben zu ermöglichen.

Wir haben eine eindeutige Gesetzgebung, die besagt, dass niemand wegen seiner Beeinträchtigung benachteiligt werden darf. Dies geht aus Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes hervor. Zudem besagt der Artikel 2 Abs.1 SGB IX, dass die Zugehörigkeit von Eltern zum Personenkreis von Menschen mit Behinderung keinen hinreichenden Grund darstellt, die Fähigkeit Eltern zu sein infrage zu stellen. Elternschaft an sich ist somit nicht unterscheidbar.

Mit dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX, 2001) und dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG, 2002) wurden grundlegende gesetzliche Voraussetzungen zur Umsetzung des Benachteiligungsverbots des Grundgesetzes und für eine verbesserte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geschaffen.

Die Umsetzung des geltenden Rechts zur Unterstützung geistig beeinträchtigter Eltern kann je nach Bundesland und dessen spezifischen rechtlichen Bestimmungen unterschiedlich sein. Die Rechtsgrundlage bleibt aber für alle gleich. Trotzdem werden Neugeborene weiterhin von ihren Eltern getrennt, wenn diese geistige Beeinträchtigungen haben.

Für eine effektive Unterstützung geistig beeinträchtigter Eltern braucht es oft die Zusammenarbeit verschiedener Akteure, einschließlich staatlicher Stellen, gemeinnütziger Organisationen, Gesundheits- und Sozialdiensten sowie Bildungseinrichtungen. Durch die Schaffung von Netzwerken und Kooperationen können Ressourcen gebündelt, Informationen ausgetauscht und die bestmögliche Unterstützung für die betroffenen Familien gewährleistet werden.

Die mangelnde Kommunikationsbereitschaft beteiligter Leistungsträger verhindert allerdings regelmäßig die Umsetzung sinnvoller Unterstützung, wie z.B. der begleiteten Elternschaft.

Dies wurde schon 2013 in der “Expertise zur Unterstützungssituation behinderter Eltern in NRW” klar benannt: “Angebote der Begleiteten Elternschaft befinden sich an der Schnittstelle zwischen Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendhilfe. Eltern mit intellektueller Beeinträchtigung benötigen meist umfassende Hilfe, um ihre Unterstützungsbedarfe zu decken.”

Obwohl es klare gesetzliche Zuständigkeiten und Verfahren gibt, hat es offenbar bisher wenig Zusammenarbeit zwischen den Systemen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe gegeben. Das betrifft auch die Hilfeplanung und die Koordination der Hilfen.

Die Ursache dafür scheint in den deutlichen Unterschieden zwischen beiden Systemen sowie den geringen Berührungspunkten zu liegen, die bisher bestehen. Zusätzlich spielt offensichtlich auch die vergleichsweise geringe Anzahl von Eltern mit intellektueller Beeinträchtigung eine Rolle. Auch wenn die Anzahl der Betroffenen möglicherweise gering ist, darf keine Benachteiligung entstehen. Familien haben das Recht auf eine individuelle und bedarfsgerechte Unterstützung. Das Gesamtverfahren ist ganz klar in §117 ff SGB IX gesetzlich definiert.

Ein koordiniertes Vorgehen, in dem beide Systeme zusammenarbeiten, könnte den Familien zugutekommen und zu einer effektiveren Bereitstellung von Hilfen führen. Aus NRW wissen wir, dass es nach wie vor an einem flächendeckenden Ausbau von Unterstützungs-angeboten, mangelt. Deshalb haben wir als Studierende des Studiengangs Soziale Arbeit der TH Köln, im Rahmen eines interdisziplinären Seminars, uns mit diesem Thema auseinandergesetzt.

Aus diesem Grund fordern wir eine zeitnahe Umsetzung von:

  • Inklusion für alle: Beeinträchtigte Eltern müssen das Recht haben, Kinder zu bekommen und zu erziehen. Sie sollten die gleichen Rechte und Pflichten haben wie nicht beeinträchtigte Eltern, wenn es um Sorgerecht und Adoptionsverfahren geht.
  • Barrierefreier Zugang zu Informationen bzgl. der Elternschaft, bessere Unterstützung und mehr Ressourcen, wie z.B. adäquate Hilfsmittel, Beratung und finanzielle Mittel, um ihre Elternschaft erfolgreich zu gestalten.
  • Ausbau der Ausbildung und Sensibilisierung von Fachkräften, wie z.B. Fachleute in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sozialarbeit. Diese sollten besser darauf vorbereitet sein, beeinträchtigte Eltern angemessen zu unterstützen und zu beraten.
  • Bessere Ausbildungen in den Jugendämtern, Landesverbänden und Sozialämter.
  • Mehr Fachkräfte und mehr Einrichtungen für beeinträchtigte Eltern in unmittelbarer Nähe Es ist an der Zeit, dass Sie sich als verantwortliche Politiker*innen nicht nur auf den Gesetzen ausruhen, sondern den Worten Taten folgen lassen. Machen Sie den mitverantwortlichen Landesverbänden mehr Druck, die Gesetze auch wirklich flächendeckend umzusetzen. Implementieren Sie eine kontinuierliche Evaluation als Instrument der Qualitätsprüfung, wie es z.B. in der Pflegeplanung üblich ist.

Wir gehen davon aus, dass Ihnen das Schicksal der Eltern mit geistiger Beeinträchtigung genauso wichtig ist, wie das der Eltern ohne Beeinträchtigung und bauen in diesem Sinne auf Ihre Unterstützung für unser Anliegen.

Mit freundlichen Grüßen

Studierende der Sozialen Arbeit an der TH-Köln

Jennifer Lissouck Li Bassom
Janine Döllekes
Sandra Lingk
Charlotte Schwalb

Unterstützer*innen:
Stefanie Bargfrede, Pädagogische Leitung Hilfen zur Erziehung Lebenshilfe Bremen e.V.